Bisheriges Verständnis: Überforderung und Bindungsangst
Traditionell wird das Verhalten des Vermeiders primär durch die Brille der Bindungstheorie erklärt (s. Emotionally Focused Therapy und Sue Johnson). Sein Rückzug wird als Ausdruck von emotionaler Überforderung oder einer tief verankerten Bindungsangst interpretiert. In diesem Verständnis versucht der Vermeider, einem eskalierenden und schmerzhaften Konflikt zu entgehen, um die gefühlte Bedrohung für die Bindung zu reduzieren. Sein Nervensystem wählt in Stresssituationen nicht das Aufeinanderzugehen, sondern das Abschalten und Distanzieren. Diese Sicht ist zwar nicht falsch, aber unvollständig, da sie den zentralen Treiber seines Verhaltens übersieht.
Neues Verständnis im Bindungs-Status-Modell: Rückzug als Status-Schutz
Das Bindungs-Status-Modell liefert eine tiefere und empathischere Erklärung für das Verhalten des Vermeiders. Es interpretiert seinen Rückzug nicht primär als Reaktion auf eine Bindungsbedrohung, sondern als einen existenziellen Status-Schutzmechanismus.
Der Kern des Problems liegt darin, dass der Vermeider den Ruf nach Nähe des Partners nicht als Wunsch nach Verbindung hört, sondern als implizite Kritik und Anklage: "Du bist nicht genug. Du versagst als Partner". Diese Wahrnehmung ist ein direkter Angriff auf sein Grundbedürfnis nach Status, also nach Respekt, Anerkennung und Wert.
Sein Rückzug ist daher eine logische und normale Reaktion auf einen erlebten Statusverlust. Er versucht, sich vor weiterer Entwertung, Kritik und dem schmerzhaften Gefühl der eigenen emotionalen Inkompetenz zu schützen. Viele Vermeider haben wiederholt die Erfahrung gemacht, in der emotionalen Arena zu "versagen", weshalb jede neue Einladung zum Gespräch mit der Erwartung einer weiteren Niederlage aufgeladen ist.
Wenn der Vermeider emotional überflutet wird ("Flooding"), erlebt er einen kompletten Status-Kollaps: Sein Gefühl von Einfluss (Status), emotionaler Sicherheit (Bindung) und Kompetenz bricht gleichzeitig zusammen. Das darauffolgende Mauern ("Stonewalling") ist aus dieser Perspektive keine Kälte oder Desinteresse, sondern ein verzweifelter Versuch, die letzte verbliebene Würde zu schützen. Während der Verfolger also um Nähe (Bindung) kämpft, kämpft der Vermeider um seinen Wert (Status).