Die Heilungs-Spirale: Geheilte Menschen haben heile Beziehungen?

Ein Porträtfoto von Lucas Forstmeyer, einem Coach und Kursleiter. Er trägt eine Brille, einen Bart und hat seine Haare zu einem lockeren Dutt gebunden. Er trägt ein blaues Oberteil und schaut freundlich in die Kamera.
Lucas Forstmeyer

Dies ist Teil 1 unserer Artikelreihe "Dogmen der Paar-Arbeit":

Was müssen wir tun, um unsere Beziehungen zu verbessern?Eine verbreitete Antwort – besonders in spirituellen und Selbstentwicklungs-Kreisen – lautet: „Heile dich selbst – dann wird sich deine Beziehung verbessern.“

Das klingt doch vernünftig, oder? Wir haben Muster, alte Wunden, innere Kinder. Kein Wunder, dass die Beziehung leidet.

Hier ist die ungefähre Logik:

  1. Du und dein Partner oder deine Partnerin habt Muster, die nicht gesund und beziehungsfördernd sind.  
  2. Aber ihr meint es nicht böse – ihr liebt euch und wollt das Beste füreinander.  
  3. Deswegen liegt der Schluss nahe, dass etwas im Weg ist. Zum Beispiel eure inneren Anteile, Bindungsmuster etc.

Und wenn sie geheilt sind – wird auch eure Beziehung heil(er). Dann dreht ihr euch nicht mehr im Kreis – in denselben Streits, denselben Rückzügen, denselben Missverständnissen.

Warum das Heilungs-Dogma so attraktiv wirkt  

Die Heilungslogik hat etwas Verführerisches. Sie klingt nicht nur klug – sie schenkt auch Hoffnung.

Denn sie sagt: Du bist nicht kaputt. Du bist in Entwicklung. Was euch gerade schwerfällt – das kann sich verändern. Dein Rückzug. Ihre Überreaktion. Die ständige Verteidigung in Gesprächen.  All das sind nur alte Muster, die geheilt werden wollen.

Und wenn wir das schaffen – wenn wir uns selbst annehmen, regulieren, lieben lernen – dann können wir diese Beziehung von einem neuen Ort aus führen.  Mit mehr Reife. Mehr Verständnis. Mehr Sicherheit.

Das klingt gut. Und es stimmt: Ein Teil davon ist wahr. Aber eben nur ein Teil.

Meine eigene Entwicklung mit dieser Perspektive

Ich habe diese Perspektive natürlich auch geglaubt. Ich habe sie geglaubt. Natürlich. Es ist schwer, ihr nicht zu verfallen – gerade, wenn man sich ehrlich verändern will. Dass sich meine Beziehung verändern würde – wenn ich oder meine Partnerin nur unsere "Themen" heilen.  Dass es irgendwann diesen Moment geben würde, in dem alte Wunden so gut versorgt sind, dass Nähe leicht wird.

Aber über die Jahre habe ich gemerkt: Es sieht oft anders aus, als ich dachte.  Nicht linear. Nicht logisch. Nicht heil → dann Beziehung.

Meine Partnerin und ich haben immer noch die gleichen Reibungspunkte. Wir sind immer noch verschieden – an manchen Punkten SEHR unterschiedlich.  Ich habe immer noch Punkte und Themen, an denen ich stark reagiere. Ich habe immer noch Stellen, an denen es mir schwerfällt, Nähe zuzulassen.  Und ich glaube, es gibt keine innere Arbeit, keine Heilung, die diese Punkte "wegmachen" kann.

Aber: Diese Punkte erzeugen keinen Krieg mehr. Keine Abwertung. Kein Drama.  Stattdessen haben wir gelernt, an diesen Punkten im Kontakt zu bleiben.

Heilung ≠ Nähe  

Ich sehe dasselbe bei vielen meiner Klienten – gerade in therapeutischen oder spirituellen Kreisen. Da wird viel geheilt. Viel reflektiert. Viel aufgeräumt.  Und doch höre ich dieselben Sätze. Wieder und wieder.  "Ich hab so viel an mir gearbeitet – warum wird es nicht leichter zwischen uns?"Beziehungen drehen sich oft im Kreis. Nicht, weil die Menschen unreif sind – sondern, weil Beziehung andere Werkzeuge braucht als Selbstarbeit.

Auch die Forschung zeigt das deutlich:  

John Gottman hat über Jahrzehnte Paare begleitet – Tausende Stunden Videomaterial, mikroanalysiert. Und sein Ergebnis klingt fast schon ernüchternd:  69 % aller Probleme bleiben bestehen.  Sie verschwinden nicht. Sie verändern sich nicht grundlegend.  Aber – sie lassen sich tragen. Der Schlüssel ist nicht Lösung – sondern Umgang.  Das ist keine Schwäche. Das ist Beziehung.(mehr in diesem Artikel)

Die Heilungslogik klingt plausibel – aber sie greift zu kurz

Sie verspricht: Wenn du dich selbst heilst, wird auch deine Beziehung heilen.  Und ja – manchmal stimmt das. Aber viel öfter stimmt es eben nicht.

Denn Menschen können traumainformiert sein – reflektiert, achtsam, gut therapiert –  und trotzdem in ihren Beziehungen vermeidend agieren. Trotzdem Schuld verschieben. Trotzdem passiv werden oder übergriffig.

Warum?

  • Weil Beziehung kein Solo ist – sondern ein System.  
  • Weil du dich nicht „fertig machen“ kannst, um dann beziehungsfähig zu sein.  
  • Und weil Bindung nicht im Kopf entsteht – sondern im echten Miteinander. Im Beziehungsfeld. In Mikro-Erfahrungen, nicht in Meta-Analysen.

Du lernst, wie Beziehung geht – nicht durch Erkenntnis, sondern durch Erleben.

Und genau deshalb greift die Heilungslogik zu kurz.  Weil sie vorgibt, dass du erst innen alles sortieren musst, bevor du dich außen wirklich einlassen darfst.  Aber so funktioniert Bindung nicht.  So funktioniert Vertrauen nicht.  So funktioniert Nähe nicht.

Gefahren des Heilungs-Dogmas

Ich sehe regelmäßig, was passiert, wenn diese Heilungslogik übernommen wird.  

Die Selbstoptimierungsfalle

Eine der häufigsten Folgen: Selbstoptimierung wird zur Voraussetzung für Beziehung.

Du musst erst ganz sein. Erst frei. Erst geheilt. Dann – vielleicht – darfst du dich auf jemanden einlassen.

Aber dieser Gedanke erzeugt Druck.  Statt echter Begegnung entsteht ein Dauerprojekt: Ich bin noch nicht so weit.  Du wirst zur eigenen Baustelle – und Beziehung wird zur Belohnung, die du dir erst verdienen musst.

Und wenn ihr dann doch zusammen seid, bleibt dieser Druck oft bestehen.  Beziehung wird zu einem Performance-Projekt. Zu etwas, das man „richtig“ machen muss.  Statt zur sicheren Basis, in der Entwicklung überhaupt erst möglich wird.

Rückzug statt Verbindung

Ein weiterer Reflex, den ich oft beobachte:  Menschen ziehen sich zurück, um an sich zu arbeiten.

Sie meinen es gut. Sie wollen Verantwortung übernehmen. Aber was beim Gegenüber ankommt, ist oft etwas ganz anderes:

  • Distanz.
  • Ausschluss.
  • Allein gelassen werden mit dem, was eigentlich gemeinsam gehalten werden müsste.

Wenn einer sich zurückzieht, um „erst mal mit seinen Triggern zu arbeiten“ dann findet keine Verbindung statt. Dann entsteht keine neue Erfahrung.

Einseitiger Fokus auf Innenschau, Gefühle und alte Wunden kann wichtig sein.  Aber wenn er den gemeinsamen Prozess ersetzt – statt ihn zu unterstützen –  dann blockiert er genau das, was Beziehung eigentlich trägt:  Gesehen werden – auch in der eigenen Unfertigkeit.

Psychologisierung als Waffe

Manchmal wird die Sprache der Heilung auch missbraucht.

Plötzlich geht es nicht mehr darum, was passiert ist – sondern um „deine Anteile“.  Nicht mehr um das, was mich verletzt hat – sondern darum, „welches innere Kind gerade aktiv war“. Wer gerade "vom Ego" gehandelt hat.

Was als Einladung zur Reflexion gedacht ist, wird zur subtilen Schuldumkehr. Du bist nicht verletzt, weil ich nicht präsent war – sondern weil du getriggert bist.

Das klingt dann klug. Aber es ist oft eine Form der Entwertung. Diagnosen ersetzen echtes Zuhören. Konzepte ersetzen Kontakt.

Statt Verbindung entsteht Bewertung. Und was bleibt, ist ein sauber formulierter Abstand – aber keine Nähe.

Was Beziehung wirklich verändert

Am Ende ist es nicht die Heilung, die eine Beziehung trägt.  Es ist das, was zwischen euch entsteht – im Alltag, in der Küche, im Streit, im Blick.

Beziehung ist keine Konsequenz aus innerer Arbeit. Sondern ein Raum, in dem Unterschiedlichkeit gehalten werden kann – ohne dass einer sich verlieren muss.  Ein Ort, an dem zwei Menschen lernen, gemeinsam zu tragen, was nicht lösbar ist. Und sich trotzdem nicht verlieren.

Beziehung ist kein Ort für Perfektion.  Sondern ein Ort für ehrliche Koexistenz.  Für zwei Menschen, die sagen:  Wir sind verschieden. Und wir bleiben. Gemeinsam.Und genau das verändert alles.

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